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Schelztor-Gymnasium
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Scheffelpreisrede 2018

Diese Rede wurde von Karlotta Nething in Zusammenhang mit der Ausgabe der Abiturzeugnisse an den Abijahrgang 2018 am 29. Juni 2018 gehalten.

 

Guten Abend, liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Eltern, lieber Herr Leihenseder und liebe Schülerinnen und Schüler,

„Die ganze Vielfalt, der ganze Reiz, die ganze Schönheit des Lebens besteht aus Schatten und Licht.“ – Die Worte des russischen Autors Tolstoi beschreiben nicht nur das ambivalente Verhältnis, in dem wir uns zu unserem gesamten Dasein auf der Erde befinden. Der Wechsel von Licht und Schatten, wie man ihn etwa beim Auf- und Untergehen der Sonne beobachten kann, kann ebenfalls sinnbildlich für das Ende von etwas stehen, das aber gleichzeitig einen neuen Anfang innehat. Unsere gemeinsame Zeit neigt sich dem Ende zu – was erst einmal ein wenig fatalistisch anmuten mag, ist dennoch das, was man im Allgemeinen die Realität nennt.
Zuerst erlebten wir ein Gefühl, das sich in unseren Gemütern als pure Euphorie getarnt hat – endlich Zeit für die eigenen Interessen haben, endlich aufhören vorzugeben, den Unterschied zwischen Atavismus und Aphorismus zu kennen und vor allem: Endlich nur noch in die Schule kommen, um Kuchen zu essen.  
Aber spätestens jetzt wird zumindest bei dem einen oder der anderen diese Euphorie von einem Schatten überzogen worden sein, womit wiederum ein ganzes Konvolut an verschiedenen Emotionen einhergeht – diese systematisch zu kategorisieren, wäre allerdings zu schwierig. Wir fragen uns also:                                   Mit welchen Gefühlen blicken wir dem Ende eines Lebensabschnittes entgegen, der für die Entwicklung eines Menschen zumeist von maßgeblicher Bedeutung ist? Zum einen fragen wir uns: Wie wird es sein, nicht mehr jeden Tag aufzuwachen und zu wissen, dass man sich jederzeit mit den Freunden und Freundinnen über alles Mögliche austauschen kann? Wie wird es sein, sich nicht mehr auf die Lehrer zu verlassen, die sonst immer eine Antwort auf alles zu haben schienen? Aber auch – wie werden wir lernen, uns in der heutigen Welt zu behaupten? Vor allem in einer hoch technisierten, hoch digitalisierten und hoch globalisierten Welt entsteht oft die Angst davor, den Ansprüchen der heutigen Leistungsgesellschaft nicht zu entsprechen. Mit Sicherheit würden wir uns jemanden wünschen, der uns auf beinahe magische Art und Weise die einzig wahre Antwort auf diese Fragen liefern könnte. Die Wahrheit ist jedoch vielmehr, dass mit hundertprozentiger Gewissheit diese Fragen nicht beantwortet werden können, eben da sie so von subjektiven und oft irrationalen Ideen, Wünschen und Ängsten geprägt sind.
Auf mich wirken daher folgende Zeilen des Romans „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger sehr beruhigend: „Manche Sachen sollten so bleiben, wie sie sind. Man sollte sie in einen großen Glaskasten stecken und so lassen können. Natürlich ist das unmöglich, das weiß ich, aber ich finde es trotzdem schade.“ Obwohl der Roman bereits 1951 veröffentlicht worden ist, scheint auch im damaligen Zeitalter der Protagonist des Romans trotz seiner Jugend offenbar Angst vor Veränderungen zu haben und schwelgt stattdessen lieber in nostalgischen Erinnerungen. Auch für uns mögen die Herausforderungen der bevorstehenden Selbstständigkeit fast kaum bewältigbar wirken. Umso wehmütiger blicken wir deshalb auf unsere gemeinsam erlebte Zeit, und damit auch auf die Eindeutigkeit und Simplizität des verantwortungslosen Daseins zurück. Wer sich bei dem Protagonisten in Salingers Roman nach seinen Zukunftsplänen erkundigt, erhält folgende Antwort: „Und ich würde am Rande einer verrückten Klippe stehen. Ich müsste alle festhalten, die über die Klippe hinauslaufen wollen – ich meine, wenn sie nicht achtgeben, wohin sie rennen, müsste ich vorspringen und sie fangen. Das wäre alles, was ich den ganzen Tag lang tun würde. Ich wäre einfach der Fänger im Roggen. Ich weiß schon, dass das verrückt ist, aber das ist das Einzige, was ich wirklich gern wäre.“                                                                                                     
Ich denke, dass wir in unserer jetzigen Situation den Sprung ins Leben als Sturz von einer Klippe empfinden könnten, da er so drastisch und in seinem Ausgang unvorhersehbar ist. Doch vielleicht ist dieser vermeintliche Sprung ins Leben vielmehr eine lange Wanderung, die zwar auch ihre Hügel und überraschenden Windungen haben wird, die wir aber höchstwahrscheinlich mit den Füßen auf dem Boden antreten werden. Und deswegen benötigen wir keinen „Fänger“, der uns vor dem fatalen Sturz bewahrt.

Wir alle besäßen wahrscheinlich gerne einen Glaskasten, mit dem wir die Absurditäten des täglichen Lebens einfangen können, jene Absurditäten, die das Leben eigentlich erst zu dem machen, was es ist – für mich gehören dazu artistisch wertvolle Standbilder zu tiefsinnigen Dramen im Deutschunterricht, französische Rap-Songs mit pädagogischer Botschaft, Luis-Buñuel-Interpretationen im Kunstunterricht und der Versuch, den Schülern englische Poesie durch Spaziergänge um die winterlich beschneiten Müllcontainer näherzubringen.                                                                                     
Im Laufe der Schulzeit haben wir wahrscheinlich alle unsere „Glaskastenmomente“ erlebt – diese wären alle nicht möglich gewesen ohne die Freudes- und Leidensgenossen, zu denen sich die Mitschüler im Laufe von zwölf Jahren entwickelt haben und mit denen wir innerhalb und außerhalb der Schule so manch zähen Nachmittag mit Freuden überstanden haben. Und selbstverständlich möchte ich mich ebenfalls bei den Lehrerinnen und Lehrern bedanken, die uns für die Wanderung des Lebens, die uns bevorsteht, mit reichlich intellektuellem Proviant versorgt haben. Wie Oscar Wilde sagte: „Jeder Geist ist eine Waffe, geladen mit Willen.“                                                                
Sie haben gewissermaßen die Munition hierfür bereitgestellt und gelegentlich so manche Fehlschüsse entschuldigt. Denn es sind eben auch die Misserfolge, an denen man lernt, zu wachsen. Ein Mensch behält in etwa ganze zehn bis fünfzehn Prozent dessen, was in er in der Schule gelernt hat, im Gedächtnis. Ich für meinen Teil weiß, dass ich dankbar für meine… nun ja, vielleicht guten 9,8 Prozent bin. Letztendlich bleibt mir nichts anderes übrig als zu konstatieren, dass wir uns nun alle auf eine Art Wanderung begeben müssen – ob sie nun uneben wird, außerordentlich geradlinig verläuft oder ob es vielmehr dienlich ist, stattdessen die Seilbahn zu nehmen: Sie wird, wie wahrscheinlich alles, das uns jemals begegnen wird, von Licht und Schatten geprägt sein. Aber mit Sicherheit werden wir alle erstaunliche Momente erleben – traurige und fröhliche Momente, skurrile und fantastische Momente – doch mit Sicherheit prägende Momente, die es sich lohnen würde, in einen Glaskasten zu stellen.